Seit Wochen nehme ich es immer wieder in die Hand und staune. Erfreue mich an einem so wunderbaren Buch. Allein dieses Papier. Drei verschiedene Papiersorten kommen zum Einsatz, die gleichsam den Inhalt unterteilen. Diese zarten Farbnuancen von Rosé bis Eierschalen, die unterschiedlichen Texturen, Gewichte, diese handschmeichelnde Haptik: Buchkunst und Kunstbuch in Vollendung.

Erschienen ist das Buch im kleinen, feinen Pariser Verlag Éditions Macula – zum 40. Jubiläumsjahr – und in deren Sammlung „Prière de ne pas toucher les étoiles“. Bitte die Sterne nicht berühren? Von wegen: Hier werden Sterne aufgefahren. Denn mit von der Partie sind Michel Troisgros und Sohn César aus der Maison Troisgros, drei Michelin-Sterne Haus seit über 50 Jahren und das in vierter Generation. Sie lassen die Sterne funkeln und ich bin hingerissen, komme aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. Troisgros ist schon seit Jahren mein Held! Für mich die Genuss-Entdeckung, ein unvergleichliches Aromenspiel, Produkt-Klarheit und perfekte kulinarische Reduktion.

Mit „Servez citron“ treiben sie jetzt den Minimalismus auf die Spitze. Weniger geht nicht mehr. In diesem herrlichen Buch, diesem Kunst-Koch-Buch, präsentieren sie Köstlichkeiten ihrer Kochkunst auf völlig abgefahrene Weise. Unerreicht, nie dagewesen in diesem Genre ist „Servez citron“ eine Provokation mit einem Hauch Dadaismus. Rezepte für fantasievoll klingende, poetisch benamte Gerichte finden sich wohl, zusammengestellt von Vater und Sohn Troisgros, die Lust machen aufs Ausprobieren und Nachkochen. Vergebens sucht man aber die Fotos traditioneller Kochbücher. Statt optisch ansprechender Lebensmittel, hübsch in Hochglanzaufnahmen arrangiert, präsentiert man – aufgepasst – leere Teller. Nein, wirklich ästhetische, ‚abgefressene‘ Teller.

Tellerbild aus: Servez citron

Zum Komplizen machte sich bei der Verwirklichung der Idee, die Vergänglichkeit der erlesenen Kompositionen festzuhalten, Éric Poitevin, Fotograf und Bildhauer, Professor an der Académie Beaux Art Paris. Er hielt die kulinarischen Meisterwerke, die aus der berühmten Küche Troigros kamen, im Bild fest. Aber eben nach dem Essen, nach dem Genuss, genauso, wie sie von den Tischen abgetragen und in die Spülküche zurückgingen. An den Tellern hat er dabei nichts verändert. Poitevin dokumentiert so das Ende des Gerichtes, wie probiert wurde, ein bisschen herumgestochert, verspeist, vertilgt, geleert bis zum letzten Saucenrest. Übrig blieben manchmal Brotkrumen, Knochen, oder Muschelschalen. Es ist eine Entdeckungsreise, die mich mehr und mehr zum Staunen bringt, zum Schmunzeln, zum Erkennen. Die Teller zeigen nicht nur die Vergänglichkeit der Speisen, sie zeigen ebenso Porträts der Esser und deren Tischmanieren. Was für ein Vergnügen! Bunte Speisereste-Reliefs auf weißem Fond. Manchmal stehen sich auf den Seiten Teller gegenüber, auf denen exakt dasselbe Gericht serviert wurde. Doch die zurückgelassen Spuren sind verblüffend unterschiedlich. Man hört im Geiste das Besteck kratzen, die leichten Schmatzgeräusche des Genusses.     

Tellerbild aus: Servez citron

Die Fotoserie ist ein wahrer Augenschmaus, der auf ungewöhnliche Weise den Zauber gemeinsamen Dinierens festhält. Ganz wehmütig wird mir beim Betrachten. Was waren das doch für Zeiten, als wir noch unbeschwert zusammensitzen konnten, gemeinsam genießen, uns an schönen Orten verwöhnen lassen. ‚Abgefressene‘ Teller – wie ein Symbol, ein Orakel, was uns eine Pandemie für wie lange noch nimmt.

Doch Trübsal blasen nützt nichts. Ich vertiefe mich lieber in den Einleitungsteil von Jean-Claude Lebensztejn, Professor für zeitgenössische Kunst und Kunstkritiker, gespickt mit alten Rezepten aus „Le cuisin français“, von François Pierre dit de La Varenne aus dem Jahr 1651, das als das erste moderne Kochbuch gilt. Skizziert wird ein kulturhistorischer Abriss über Tischmanieren im Wandel der Zeit. Wie viele Fallen und Tabus es seit der Antike und über die Jahrhunderte hinweg bei Tisch gab! Wie benutzt man eine Serviette richtig, oder isst einen Pfirsich mit Messer und Gabel. Dieser originelle, sehr kurzweilige Einstieg rundet das Kunst-Koch-Buch ab, verleiht ihm noch mehr Tiefe und regt zu Reflexion über richtiges Verhalten rund ums Essen an. Nehmen Sie doch etwas Zitrone dazu, das hebt den Geschmack, die Laune und die Gesundheit – Servez citron!

Leider noch nicht auf Deutsch erschienen:
„Servez citron. Une ensemble de photographies par èric Poitevin d’assiettes desservies chez Troisgros, accompagné des recettes afferents, piqué de Restes de table, un essai par Jean-Claude Lebensztejn, aux Éditions Macula, 280 Seiten, Paris 2019.

Tellerbild aus: Serve citron